
Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.2005
Odyssee
Andre Gunder Frank gestorben
Unter den marxistischen Theoretikern, die in den sechziger Jahren die Abhängigkeit, die Unterentwicklung und das revolutionäre Potential der „Dritten Welt“ herausstellten und
damit der linken Studentenbewegung das geistige Rüstzeug gaben, nahm Andre Gunder Frank einen herausragenden Platz ein. Frank wurde am 24. Februar 1929 in Berlin geboren. Seine
Familie emigrierte aus Deutschland zunächst in die Schweiz und erreichte 1941 die Vereinigten Staaten. Nach einer Promotion über die sowjetischen Agrarverhältnisse – ausgerechnet bei dem
Chicago-Marktwirtschaftler Milton Friedman! – begann die zweite Etappe seines bewegten Lebens, das er selbst einmal als „Odyssee“ vielleicht noch zu euphemistisch beschrieben hat,
denn diese Lebensreise hatte kein heimatliches Ithaka, das wartete.
Er ging nach Lateinamerika, wo er seine erste Frau Marta Fuentes kennenlernte, mit der zusammen er in insgesamt zwölf Ländern, von Mexico bis Brasilien, lehrte und lebte. Selbstironisch
hat er einmal berichtet, daß er nie länger als fünf Jahre an einem Ort blieb. Um das kennenzulernen, was man inzwischen in der wissenschaftlichen Diskussion das „Weltsystem“ nennt, war
dieses Leben in Bewegung sicher keine schlechte Voraussetzung. Unter anderem gab Frank ein Gastspiel in Chile zur Zeit der von ihm unterstützten sozialistischen Allende-Regierung. Nach
Allendes Sturz ging Frank nach Starnberg, wo er sich in der Zusammenarbeit mit Carl Friedrich von Weizsäcker dem Nord-Süd-Konflikt widmete, den damals auch die Sozialdemokraten
entdeckten. Auch in Frankfurt versuchte er an der Universität Fuß zu fassen, was ihm allerdings nicht dauerhaft gelang; er hat es
nicht ohne Bitterkeit notiert. An der Universität von East Anglia in Großbritannien fand er endlich eine Professur, bevor er, nach einer Station in Amsterdam, ein neues Domizil in Toronto aufschlug.
Franks Anliegen war es zeitlebens, den Blick von Europa wegzulenken – auf die imperiale Peripherie, nach Asien, auch auf mögliche historische Alternativen. Seine letzte große Publikation, das Buch „Re-Orient, Asian Economy in the Global Age“ (1998), versuchte den Nachweis zu führen, daß der gegenwärtige
Aufschwung Chinas seine Vorläufer in der Frühen Neuzeit hatte, daß auch hier eine Revision der Geschichtsschreibung an der Zeit sei. In der antiken, mittelmeerischen, und in der neuzeitlich
-weltweiten europäischen Expansion und Erfolgsgeschichte wollte er weniger eine geschichtliche Notwendigkeit sehen als einen historischen Zufall, der zudem auf Erfindungen der
Chinesen, der Inder und der islamischen Welt gegründet gewesen sei. Am vergangenen Samstag ist Andre Gunder Frank in Luxemburg verstorben, in Europas Finanzzentrum.
LORENZ JÄGER

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